Neue Hoffnung für Menschen mit Ataxie

Mann im Rollstuhl

Ist die Krankheit weiter fortgeschritten, sind Menschen mit einer Ataxie häufig auf einen Rollstuhl angewiesen. Bildquelle: ©RAM - stock.adobe.com

Bei einer Ataxie verlieren die Betroffenen nach und nach die Kontrolle über ihren Körper. Ein neuer Wirkstoff könnte die Krankheit erstmals stoppen. Studien sind in Vorbereitung. Möglich wird dies nur mithilfe systematischer Datenanalysen.

von Melanie Bergs und Gesa Terstiege

Die Krankheit beginnt mit unsicheren Bewegungen und Koordinationsstörungen. Die Betroffenen bekommen Schwierigkeiten beim Schreiben, können ihr Essbestecke nicht mehr richtig halten. Sie sprechen undeutlich, ihr Gang ist schwankend. „Der ganze Zustand des Menschen mit einer solchen Erkrankung ist vergleichbar mit der Motorik eines Betrunkenen“, beschreibt Thomas Klockgether, Direktor der Klinischen Forschung am Deutschen Zentrum für Neurodegenerative Erkrankungen in Bonn. Der Neurologe hat sich auf die spinozerebelläre Ataxie spezialisiert. Insgesamt gibt es mehr als 100 Formen von erblichen Ataxien. In Deutschland sind laut Schätzungen bis zu 15.000 Menschen betroffen. Viele Patientinnen und Patienten sind früher oder später auf den Rollstuhl angewiesen. Ihre Lebenserwartung ist begrenzt. Doch ein neuer Wirkstoff könnte diese Abwärtsspirale stoppen.

Aktuell gibt es keine wirksamen Medikamente, um die Krankheit aufzuhalten oder ihre Symptome zu mildern. Physio- und Ergotherapie sind die einzigen Möglichkeiten, den Betroffenen zu helfen. Weltweit wird fieberhaft nach Therapien gesucht, bisher ohne Erfolg. Forscherinnen und Forscher setzen ihre Hoffnung nun auf neue Wirkstoffe, die die Folgen des genetischen Defekts unterdrücken sollen. Die Proteine, die die Erbkrankheit auslösen, werden dann gar nicht erst vom Körper hergestellt. Auf dem Weg zur Zulassung müssen sich die Medikamente jedoch erst in Therapie-Studien bewähren. Um diese zu planen, brauchen die Forscherinnen und Forscher zunächst einen bioinformatischen Werkzeugkasten. Diesen liefert das Forschungsprojekt „ISDN“, bei dem klinische Forschungsteams eng mit Bioinformatikern zusammenarbeiten. Dabei werden sie vom Bundesforschungsministerium unterstützt. Ziel des Projekts: Die sehr umfangreichen und auch verschiedenartigen Daten so aufzubereiten, dass sie sowohl für Computer als auch für die Forscher besser verständlich und handhabbar sind.

Krankheitsverlauf verstehen

Um den Erfolg der Behandlung beurteilen zu können, müssen die Mediziner zunächst den natürlichen Krankheitsverlauf sehr genau studieren. Darauf aufbauend planen sie die Studie. „Es ist wichtig zu wissen, zu welchem Zeitpunkt die Therapie am wirkungsvollsten ist“, erklärt Klockgether. Bei einer Ataxie werden die Nervenzellen im Kleinhirn und Rückenmark sukzessive beschädigt. Damit wird der Koordinationsfähigkeit des Menschen immer mehr beeinträchtigt. „Das ist vergleichbar mit einer fortschreitenden Demenz, nur das hier nicht Gedächtnis und Logik leiden sondern die Motorik.“

In einer Langzeitstudie mit mehr als 500 Betroffenen haben die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler den Krankheitsverlauf quantitativ erfasst und Faktoren identifiziert, die das Fortschreiten der Erkrankung maßgeblich beeinflussen. Neben dieser europäischen gab es auch eine große amerikanische Beobachtungsstudie. Dank der computergestützten Methoden ist es nun erstmals möglich, diese umfangreichen Datensätze zusammenzuführen und zu analysieren.

Computer-Tools machen Therapie-Studie erst möglich

Was zunächst einfach klingt, ist eine große Herausforderung für die Informatikerinnen und Informatiker im Forschungsprojekt. „Wir müssen extrem heterogene Daten zusammenführen und erst einmal für den Computer lesbar machen“, sagt Projektkoordinatorin Juliane Fluck vom Fraunhofer-Institut SCAI. Dabei gilt es, vielfältige Daten zu erfassen und verknüpfen. Dazu zählen unter anderem MRT-Aufnahmen, genetische Marker, aber auch Informationen aus Langzeitstudien mit Betroffenen wie Patienten-Interviews und Bewegungstest. Weitere Herausforderungen für das Forschungsteam: „Zum einen liegen sowohl deutsche als auch englische Datenquellen vor. Zum anderen werden dieselben Sachverhalte in unterschiedlichen Dokumenten anders benannt“, erklärt Fluck weiter. „Als Menschen wissen wir, dass Koordinationsschwierigkeiten und motorische Störungen das Gleiche bedeuten. Für den Computer sind das zunächst jedoch völlig verschiedene Begriffe.“

Wenn die Computertools alle Daten verarbeitet haben, können sie einen schnellen Überblick liefern, um mögliche medizinische Zusammenhänge zu erkennen und die Vorbereitung der Therapie-Studie deutlich beschleunigen. Die Therapie-Studie in Kooperation mit einem Pharmaunternehmen könnte schon im kommenden Jahr starten, hoffen die Forscherinnen und Forscher.

Die entwickelten Methoden lassen sich in vielen klinischen Anwendungsgebieten einsetzen, unter anderem für andere neurodegenerative Erkrankungen wie Demenz. Auch diese Krankheit entwickelt sich über einen längeren Zeitraum hinweg. Die Datenquellen sind sehr ähnlich. Hier sollen die Software-Lösungen Anhaltspunkte für die Früherkennung von Demenz liefern. Damit tragen die Bioinformatikerinnen und Bioinformatiker zum Erkenntnisfortschritt für eine der größten Herausforderungen der Gesellschaft bei. Allein in Deutschland leiden rund 1,6 Millionen Menschen an Demenz. Bis 2050 könnte sich die Zahl der Betroffenen nahezu verdoppeln.

Kontakt

Prof. Dr. Juliane Fluck

Fraunhofer-Institut für Algorithmen und Wissenschaftliches Rechnen SCAI

Abteilung Bioinformatik
Schloss Birlinghoven
53754 St. Augustin

E-Mail: juliane.fluck@scai.fraunhofer.de

Website: https://www.idsn.info/de/idsn.html