Die Genomsequenzierung spielt eine Schlüsselrolle in der personalisierten Medizin. Bioinformatiker Alexander Dilthey entwickelt neue Methoden, um die Gen-Analysen deutlich zu verbessern. So lassen sich etwa individuelle Krankheitsrisiken frühzeitig erkennen.
Von Melanie Bergs
Das Arbeitszimmer von Alexander Dilthey wirkt spartanisch: ein kleiner Raum, in dem man wenige persönliche Dinge findet. An den Wänden hängen zwei Whiteboards, die über und über mit mathematischen Formeln und Tabellen beschriftet sind – Notizen aus zahlreichen Gesprächen mit Kolleginnen und Kollegen. Auf dem nahezu leeren Schreibtisch steht ein Computer-Monitor. „Selbst den brauche ich eigentlich nicht“, sagt der Professor für Genomische Mikrobiologie und Immunität an der Universität Düsseldorf. „Am liebsten sitze ich mit meinem Laptop draußen in einem Café.“ Wenn das Büro etwas über den Menschen verrät, der darin arbeitet, dann dies: Hier denkt offenbar jemand sehr strukturiert und konzentriert sich auf das Wesentliche. Eigenschaften, die hilfreich sind, wenn man Ordnung bringen möchte in ein so komplexes und kompliziertes System wie das menschliche Genom.
Das Genom des Menschen besteht zwar nur aus vier verschiedenen Grundbausteinen, den organischen Basen Adenin (A), Thymin (T), Guanin (G) und Cytosin (C). Diese Basen sind auf dem langen Strang der DNA jedoch in unterschiedlicher Reihenfolge angeordnet, ähnlich wie die Buchstaben in einem Buch. Zusammen genommen bilden sie einen Text, der etwa 3000 Bücher mit je 1000 Seiten füllen würde. Und jeder Text ist von Mensch zu Mensch unterschiedlich geschrieben. „Diese enorme Vielfalt finde ich unglaublich faszinierend“, sagt Dilthey. Schwerpunkt seiner Forschung ist die Genomsequenzierung. Sie macht es erst möglich, die individuelle Buchstaben-Kombination eines jeden Genoms in der richtigen Reihenfolge zu lesen. Dies liefert wiederum wichtige Informationen für die personalisierte Medizin. Denn genetische Varianten können sowohl das individuelle Krankheitsrisiko eines Menschen beeinflussen, als auch dafür verantwortlich sein, ob eine bestimmte Therapie anschlägt oder nicht.
Neue Methode bildet genetische Vielfalt ab
Die Genomsequenzierung hat die moderne Medizin in den vergangenen Jahren stark verändert. Vor allem in der Diagnostik kommen computergestützte Methoden der Gen-Analyse immer häufiger zum Einsatz. „Um die spezifischen genetischen Varianten eines Patienten zu ermitteln, wird das Genom bisher in den meisten Fällen mit einem Referenzgenom verglichen. Das ist eine bestimmte Genomsequenz, die bereits vor vielen Jahren bestimmt wurde“, erklärt Dilthey. Das sei jedoch nicht immer hilfreich: „Je stärker das untersuchte Genom von dieser Referenz abweicht, desto häufiger treten Fehlinterpretationen auf.“ Der Bioinformatiker und sein Forschungsteam setzen daher auf ein neues Verfahren, so genannte Genomgraphen. Ihre Forschungsarbeit auf dem Gebiet wird vom Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) unterstützt. „Ein Genomgraph ist im Prinzip eine kompakte Bündelung von mehreren Referenzgenomen. Somit repräsentiert der Graph die genetische Vielfalt einer Gruppe von Individuen und macht damit bessere Gen-Analysen möglich“, sagt Dilthey.
Die Verwendung von Genomgraphen ist vor allem in medizinischen Bereichen sinnvoll, in denen die genetischen Unterschiede zwischen den einzelnen Patienten besonders groß sind. Dilthey nennt ein Anwendungsbeispiel aus der Praxis: „Bei einer Knochenmarktransplantation im Rahmen einer Leukämie-Therapie müssen die Immunsysteme von Spender und Empfänger kompatibel sein.“ Hierfür sind wiederum spezifische Gene entscheidend, die wichtige Merkmale des Immunsystems bestimmen. „In der Immungenetik ist die Variationsbreite jedoch besonders groß“, so der Genomforscher. „Hier können Genomgraphen die Zuverlässigkeit der genetischen Analyse von Spender und Empfänger deutlich verbessern.“
Genetische Risiken frühzeitig kennen
Die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler rechnen damit, dass ihre Entwicklung innerhalb der kommenden Jahre einsatzbereit sein wird. Voraussetzung dafür ist jedoch ein ausreichender Datenpool. Denn Genomgraphen setzen sich aus Hunderten Referenzgenomen zusammen. Um sie zu bilden, greifen die Forscherinnen und Forscher bislang auf internationale Datenquellen zurück, vor allem aus Großbritannien und den USA, wo bereits umfangreiche Biobanken mit hunderttausenden Vergleichsgenomen existieren. Alexander Dilthey hat in Oxford zum Thema Genomgraphen geforscht und pflegt aus dieser Zeit noch gute Kontakte zu Forschenden vor Ort. Er hofft darauf, dass auch in Deutschland in naher Zukunft ein vergleichbarer Datenpool geschaffen wird.
Doch die Vision des Düsseldorfers geht noch deutlich weiter: „Wir wissen inzwischen, dass viele Volkskrankheiten einen signifikanten genetischen Anteil haben, der von Anfang an existiert“, so Dilthey. „Wer seine individuellen genetischen Risiken frühzeitig kennt, kann in seiner Jugend vielleicht bereits etwas unternehmen, um später nicht krank zu werden. Und bei der Charakterisierung der entscheidenden genetischen Faktoren für Krankheitsrisiken können unsere Methoden ebenfalls einen wichtigen Beitrag leisten.“ Voraussetzung dafür wäre jedoch, dass schon junge, gesunde Menschen ihr Genom sequenzieren lassen. Dilthey wünscht sich, dass die Bereitschaft der Bevölkerung hierfür künftig wachsen wird. Sein eigenes Genom hat der Forscher selbstverständlich bereits analysiert. „Ohne nennenswerte Auffälligkeiten“, sagt er.
Softwaretool legt Corona-Infektionsherde offen
Die innovativen Sequenziermethoden von Dilthey und seinem Team kamen auch in der Corona-Pandemie zum Einsatz – beim Vergleich von Virus-Genomen. Die Forschenden haben in der Hochzeit der Pandemie rund 50 Prozent aller positiven Proben des Gesundheitsamtes Düsseldorf nahezu in Echtzeit ausgewertet. Dabei setzten die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler eines voraus: Hat eine Person die andere angesteckt, so ist das Genom des Erregers in beiden Proben fast identisch. „Wir haben für das Gesundheitsamt ein Softwaretool entwickelt, in dem unsere Ergebnisse mit den Daten zur Kontaktnachverfolgung verknüpft werden konnten“, sagt Dilthey. „So konnte man nachvollziehen, wo sich die Leute angesteckt haben, und das machte wiederum die Identifikation bestimmter Ansteckungshotspots innerhalb der Stadt möglich.“ Das Düsseldorfer Forschungsteam arbeitet weiter daran, die Algorithmen für die Analyse der Ausbreitungswege von Viren zu optimieren, nun auch mit Blick auf künftige Pandemien. „Unser Modell lässt sich auf jede andere Region, aber auch jeden anderen Erreger übertragen“, so Dilthey.
Der besondere Reiz an seiner Arbeit liegt für Alexander Dilthey in der Interdisziplinarität. Als Bioinformatiker kann er seine Leidenschaft für Computer mit seinem Interesse für biologische Zusammenhänge verbinden. „Ich habe tatsächlich zuerst Biologie studiert, aber dann schnell festgestellt, dass mir das gar nicht liegt“, erinnert er sich. Die praktische Arbeit im Labor sei nichts für ihn. „Beim Sezieren meines ersten Blattes habe ich gleich das Mikroskop zerstört“, sagt er und lacht. „Mein Werkzeug sind Algorithmen, nicht Mikroskope.“ Dennoch erlebe er den Austausch mit den Biologinnen und Biologen im Team als unglaublich bereichernd. „Das ist ein kreativer Prozess, der mir sehr viel Spaß macht.“ Das Labor des Forschungsteams liegt eine Etage unter Diltheys Büro. Hier stehen die leistungsfähigen Rechner, die innerhalb weniger Tage ein menschliches Genom entschlüsseln können.
In der Heimatstadt angekommen
Wenn Dilthey doch in seinem Büro am Computer sitzt, befindet sich der Bioinformatiker nur einen Steinwurf von der Uniklinik Düsseldorf entfernt, in der er vor 39 Jahren zur Welt kam. „Aber ich war zwischendurch lange weg, das rettet mich“, sagt er, als wolle er sich ein wenig dafür rechtfertigen, und muss dann erneut lachen. Überhaupt wirkt Alexander Dilthey wie ein sehr offener, fröhlicher Mensch, den man sich mit Laptop im Café viel besser vorstellen kann als in seinem eher nüchternen Arbeitszimmer. Dilthey hat einige Jahre in Großbritannien und den USA gelebt. Seit 2021 ist er nun Professor in seiner Heimatstadt. Am Wochenende zieht es ihn oft nach Trier, wo seine Freundin lebt. „Da kann man prima durch die Weinberge joggen“, so Dilthey. Wer seinen Namen in eine Suchmaschine eingibt, findet noch heute einen Beitrag, den er als 24-jähriger Student über sein Auslandssemester in Genf geschrieben hat. Ein lebendiger, humorvoller Text, der Talent erkennen lässt. „Ich habe in meiner Jugend auch häufiger Beiträge für Computermagazine geschrieben“, so der Forscher. Aber Journalist zu werden, daran hätte er nie gedacht. Und wer Alexander Dilthey dabei beobachtet, wie er von seiner Arbeit erzählt, voller Elan und mit ausladenden Gesten, der merkt schnell, dass er genau hier am richtigen Ort angekommen ist.